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Natalie Merchant, die in Europa nicht so bekannte, ja fast vernachlässigte ehemalige Leadsängerin der Achtziger-US-Collegerock Kombo 10.000 Maniacs, kehrt nach siebenjähriger Pause auf die Bühne zurück. Mit Leave Your Sleep setzt Merchant ihre Veröffentlichungspolitik fort: eine Doppel-CD in luxuriöser Ausstattung mit einem Booklet, das nicht nur Texte der 26 neuen Lieder bietet, sondern auch detaillierte biographische und sonstige Infos zu jedem Lied. Die biographischen Daten gelten dabei vielen bekannteren und weniger bekannten DichterInnen, deren Gedichte Merchant hier vertönt hat. Damit übertrifft sie ihre Sammlung der Folk- und Americana-Songs The House Carpenters Daughter aus dem Jahr 2003 deutlich. Beim Vorgänger handelte es sich um Merchants Interpretationen britischer und amerikanischer Folklieder, aber auch fast vergessener Arbeitskampf-Lieder wie etwa Which Side Are You On? In ihrem aktuellen Werk widmet sich Merchant traditionellen Kinderliedern, sowie Werken mehr oder weniger vergessener DichterInnen, wie z. B, Rachel Field oder Lydia Huntley Sigourney. Diese ehrliche Verbundenheit mit dem Überlieferten und von Vergessenheit bedrohten Liedgut des angloamerikanischen Sprachraums macht Merchant zu einer einzigartigen Kulturschatzarchivarin. Neben ihrer Vorliebe für düstere Balladen (House Carpenter vom gleichnamigen Album etwa, oder Thick As Thieves vom Konzeptalbum Ophelia), ist es für Merchant auch charakteristisch, dass viele ihrer Lieder aus der Feder berühmter Autoren stammen, von diesen handeln oder ihnen gewidmet sind. Die Affinität zur Literatur, aber auch zum Film begleitet Merchant seit ihren Solo-Anfängen. So ist das Lied River vom Erstling Tigerlily dem früh verstorbenen Schauspieler River Phoenix gewidmet. Zum Konzeptalbum Ophelia gibt es einen begleitenden Experimentalfilm, in welchem die Künstlerin in viele Frauenrollen aus ihren Liedern schlüpft. Auf dem (auch textuell)  bahnbrechenden Album Motherland (2001) nimmt sie sich erstmals eines zu Lebzeiten unbekannten Dichters an und widmet ihm die langsame, teilweise entrückte Nummer Henry Darger.

Auch musikalisch bleibt Merchant konsequent auf dem bereits mit ihrer zweiten Scheibe Ophelia (Veröff. 1998) eingeschlagenen Weg der Erneuerung. War ihr Debüt Tigerlilly (1995) noch eher konventionell aufgebaut (mit obligatorischen Hits für die Charts, wie Carnival und San Andreas Fault), entfernt sie sich zunehmend von der Pop-Business-Maschinerie mit jeder neuen Veröffentlichung. Diese Entwicklung wird mit dem bereits besprochenen Album The House Carpenter’s Daughter sehr deutlich.

Auf Leave Your Sleep erreicht Merchant den Höhepunkt dieser Entwicklung. Diesmal noch facettenreicher, arbeitet sie mit Größen vieler Stilrichtungen: so überrascht sie in The Dancing Bear mit Klezmerklängen vom Feinsten, unterstützt durch The Klezmatics aus New York. The Peppery Man, ein weiterer Höhepunkt, wurde unter Mitwirkung der New Yorker Jazzfolk-Kombo Hazmat Modine eingespielt. Die bluesigen Begleitstimmen in diesem Lied stammen von The Fairfield Four, einer Gospelband, die es in diversen Zusammensetzungen seit den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts gibt! Dieselben Mitspieler (verstärkt durch L.A.-Indierockband Ditty Bops) spielten auch die nächste Nummer, The Blind Men And The Elephant ein. Auch das Eingangslied der ersten CD, Nursery Rhyme Of Innocence And Experience, besticht durch reiche Orchestrierung, ohne dass das Lied dadurch überfrachtet wirkt – eine Qualität, welche Merchant konsequent liefert. Anonym verfasstes traditionelles Liedgut kommt auch nicht zu kurz, klassische britische nursery rhymes wie The King Of China’s Daughter oder Sweet And A Lullaby finden ihren Platz hier.

Fast jedes der 26 Lieder ist hier ein Anspieltipp; das fünfte Lied auf der zweiten CD, Griselda reiht sich allerdings problemlos in das Beste des vergangenen Jahrzehnts. Im düsteren Jazzrock gehalten, gemahnt das Lied an Höhepunkte vorangegangener Alben (etwa Saint Judas von Motherland oder das bereits erwähnte Thick As Thieves), ohne zu einer bloßen Variation aufs bekannte Thema zu werden. Merchants rauchig-süße Stimme kommt hier am Besten zum Vorschein, umrahmt vom teils getragenen Memphis Blues vom Feinsten – beigesteuert von Genreveteranen The Memphis Boys; übrigens auch ein Mitbringsel aus der Vergangenheit, gibt es die Band bereits seit den späten Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts. Der Text des Liedes stammt von der vielseitig talentierten neuseeländischen Schriftstellerin Eleanor Farjeon.

Fazit: Leave Your Sleep ist das bislang bei Weitem anspruchvollste Werk Merchants, die uns von Anfang an hohe künstlerische und produktionstechnische Qualität angeboten hatte. Das 40-seitige Booklet liefert profunde Informationen über jedes Lied und dessen DichterIn, begleitet von teils sehr seltenen Fotos. Auch hier zeigt sich die Größe Merchants, in der Gestaltung dieses Werkes, welches überraschend wenig Raum für die Interpretin selbst bietet, sich aber großzügig den TextautorInnen widmet. Alles in allem, eine Wohltat für alle, die gerne einen Blick (und ein Ohr) jenseits gängiger Genres richten.

Tipp für Reisefreudige und Schnellentschlossene: Natalie Merchant befindet sich derzeit auf Europatour; diese bringt sie leider nicht nach Österreich. Immerhin kommt sie demnächst nach Köln, Hamburg, Berlin, München und Zürich – nähere Infos auf der Homepage.

Trackliste

  1. Nursery Rhyme of Innocence and Experience
  2. Equestrienne
  3. Calico Pie
  4. Bleezer's Ice-Cream
  5. It Makes a Change
  6. The King of China's Daughter
  7. The Dancing Bear
  8. The Man in the Wilderness
  9. Maggie and Milly and Molly and May
  10. If No One Ever Marries Me
  11. The Sleepy Giant
  12. The Peppery Man
  13. The Blind Men and the Elephant
  14. Adventures of Isabel
  15. The Walloping Window Blind
  16. Topsyturvey-World
  17. The Janitor's Boy
  18. Griselda
  19. The Land of Nod
  20. Vain and Careless
  21. Crying, My Little One
  22. Sweet and a Lullaby
  23. I Saw a Ship A-Sailing
  24. Autumn Lullaby
  25. Spring and Fall: to a Young Child
  26. Indian Names
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