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Die Vorgängerprojekte Calle della Morte und Recondita Stirpe haben ja bereits den Weg für Ballo delle Castagne geebnet, indem sie das mitunter sehr einengende Neofolk-Korsett abgelegt, sich in scheckigeres Rock-Gewand geschmissen und den Reigen der gitarrenlastigen Referenzen an die Rockgeschichte eröffnet haben (– vielleicht ist das ja genau das noch letzte verbindende Element zum Neofolk, die Affinität zu alten Werten, die ja im ganzen Genre immer häufiger nicht mehr als gestrig Ideologisches, sondern sich in alternativ anbietenden Wertehaltungen Verlagertes zelebriert werden). Beim Erstlingswerk führte dieser Weg hauptsächlich zu Wave und Post-Punk. Ein Mini-Album später wagte man sich mit „108“ bereits an das Projekt  einer gleichnamigen Trilogie, pflügte den Post-Punk weiter um und deutete stellenweise an, dass an jenem Punkt nicht unbedingt Halt gemacht werden würde. Und so ist beim Nachfolger „Kalachakra“, zweiter Teil der Trilogie, tatsächlich nicht nur nicht Halt gemacht, sondern ein ordentliches Stück weiter zurück, was einem musikalischen vorwärts gleichkommt,  gegangen worden.

Gleich der Opener „Passione Diabolice“ zeigt mehr als deutlich, was der Hörer zu erwarten hat: Eine geballte Ladung Rockhistorie in Form von Proggressive und Psychedelia. Mit wuchtigem Schlagzeug, zerrenden Riffs, Orgel und einer obsessiven Gesangseinlage von Carolina Cecchinato mäandert das Stück innerhalb nur weniger Minuten durch unterschiedliche Rhythmus-rund Instrumentalsektionen um in einem pathetischen Streicherfinale einen bombastisch-prägnanten Abschluss zu finden.

In weiterer Folge gesellen sich zur psychedelischen (Art-)Rockmixtur ein alles durchdringender Schuss Krautrock, vereinzelt Blues-Schweinsrock-Attitüde und immer wieder eine Soundtrackstimmung, die zwar gefühlsmäßig näher bei Dario Argento und Giallo liegt, in Wirklichkeit aber einem gänzlich anderen Filmschaffen und Genre geschuldet ist, Werner Herzog und seiner tibetophilen Kalachakra-Dokumentation „Rad der Zeit“ nämlich, Inspirationsquelle für das ganze Album. Dieser buddhistische Bezug liegt streng im Rahmen der konzeptualisierten 108 , einer Zahl, die in Hinduismus und Buddhismus für eine Vielzahl astrologisch-religiöser Koinzidenzen und die Überwindung des Bösen im Menschen steht. Und so, wie der japanische Zen-Mönch zur Einleitung des neuen Jahrs mit 108 Glockenschlägen die Geister der leiderweckenden Verstrickungen und menschlichen Vergehen vertreibt, vertreiben hier die Musiker auf musikalischer Ebene ihre eigenen Dämonen und Verflechtungen.

Der rockschwere Titeltrack ist einer der Höhepunkte des Albums. Eine Sitar entführt in psychedelisch verschrobene Landschaften, später in einen wohl akzentuierten Groove, bis sich alles per krautiger Repetition in Riffesschwere auflöst. Auch beim durchgängiger strukturierten „La Terra trema“ drängt das Riff zur Dominanz, nicht aber ohne im Duell mit der Orgel ein wunderbares Remis einzufahren. Im ruhig gehaltenen „I Giorni della Memoria terrena“ erzeugt der Gesang eine mantra-artige Sogwirkung. Der stillste Moment des Albums, „La Forresta dei Suicidi“, ist fast schon altmodischer Ambient, zwinkert mit verklärtem Klaviereinsatz in Richtung Popol Vuh/ Florian Fricke. „Omega“ stützt sich aufs Schlagzeug, lässt langsam und ruhig Synthesizerstrukturen hinzufließen und endet, wie einige andere Songs auch, in einem wilden Rock-Orgel-Wirbel. „Tutte le Anime saranno pesate“ ist naiv gesungenes und gespieltes Dahingeplänkel durch verhallte Psychedeliatäler, versehen mit wattebauschigen Percussions und entfremdeten Vocals. Im letzten, streng experimentellen Titel „Ballo delle Castagne“ findet sich Klaus Kinskis legendärer egomanisch-religiöser Sager: "Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus, der unter Polizisten, Bankiers, Richtern, Henkern, Offizieren, Kirchenbossen, Politikern und ähnlichen Vertretern der Macht geduldet wird. Ich bin nicht euer Superstar".

Und so ist „Kalachakra“ insgesamt eine Art ritualisierte, ritualistische Härtestrecke zu den im eigenen Ich verborgenen Wurzeln der humanen Schlechtigkeiten, und, allein durch das Zurücklegen dieser Strecke, eine psychoaktive Impfladung Retrorock gegen ebenjene. In den Worten von Vinz Aquarian: “We went through all evil passions living among us, meeting the terrible after death creatures, dealing with all our past memories and finally reaching the self conscience status of one existing Source. To this Source we will return as part of The Only One. There is no end, there is no begin: that’s what we learned and we recorded in this album.” Ein Album, das vor allem auch dadurch überzeugt, dass vermeintlich sperrige Passagen nach mehrmaligem Hören immer schlüssiger werden und mit den gängigeren Teilen zu einem wohldurchdachten Ganzen zusammenfließen. Man kann mehr als gespannt sein, in welch obskuren, wundersamen Landschaften der Abschluss der Trilogie seinen hoffentlich genauso guten Ausklang findet. Die Hörerwartungen des klassischen Neofolkers mögen zwar mächtig gefordert werden, dennoch oder gerade deswegen aber: strengste Empfehlung!

Trackliste

  1. Passioni diaboliche
  2. Tutte le Anime saranno pesate
  3. I Giorni della Memoria terrena
  4. Kalachakra
  5. La Terra trema
  6. La Foresta dei Suicidi
  7. Omega
  8. Ballo delle Castagne