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Karin Dreijer und Olof Dreijer sind ein Geschwisterpaar aus Stockholm. Seit 1999 machen sie gemeinsam unter dem Namen "The Knife" Musik. 2000 erschien ihre erste Single auf ihrem eigenen Label Rabid Records. Zu Beginn konnten sie sich eine Fangemeinde in Skandinavien aufbauen. Nach und nach eroberte ihre Musik aber auch den Rest der Welt und spätestens seit dem Album "Silent Shout" von 2006 sind sie eine Fixgröße am Himmel des Alternativpop. Obwohl sich die beiden Dreijers nicht so versteckt halten wie zum Beispiel The Residents, zeichnen auch sie sich durch Anonymität und Zurückhaltung der eigenen Persönlichkeiten aus. Dazu passt, dass "The Knife" bis heuer noch nie auf Tour gegangen sind.

In einem Interview mit der Zeitschrift Spex erläutern die Geschwister, was sie zur Zeit beschäftigt. Es ist vor allem das Gender-Thema. Dazu passen auch die aktuellen Bandfotos, die zwei androgyne Figuren in blauen Outfits und mit langen Haaren zeigen. Auf der neuen Platte haben fast nur Frauen mitgearbeitet, erklärt Olof Dreijer. Frauen seien überhaupt die besseren Menschen und die Welt täte gut daran, Frauen mehr Macht zu geben. Solche Platitüden überraschen bei einer Band, deren Musik so dermaßen differenziert ist.

Das neue Album "Shaking the Habitual" passt zum beherrschenden Thema. Das gewöhnliche soll abgeschüttelt werden. Geschlechterrollen aufreissen. Reichtum neu verteilen. Der CD liegen zwei Comics bei, die sich gegen den Besitz vom extremem Reichtum aussprechen. Auf ziemlich amüsante Weise werden gefakte Konferenzen gezeigt, bei denen Gastprofessoren der Hörerschaft erklären, dass eine Heilung von zu viel Reichtum möglich ist. Musikalisch wird das Habituelle ebenfalls abgeschüttelt. "The Knife" 2013 klingen immer noch nach "The Knife". Besonders der Opener "A Tooth For An Eye" knüpft ziemlich nahtlos an "Silent Shout" an. Doch bereits Track 2, die aktuelle Single, "Full Of Fire" schlägt komplett neue Wege ein.

Weg ist der minimalistische Synth-Pop, ein harter Rhythmus beherrscht die Nummer. Ein paar Melodiefetzen hie und da, Karin Dreijers eindringlicher Gesang, und sonst nichts, ausser harter monotoner Rhythmus. Und das ganze fast 10 Minuten lang. Mit "A Cherry On Top" wird der zweite Schwerpunkt des Albums vorgestellt. Gut ein Drittel des Tripelalbums besteht nämlich aus düsteren Ambient und Industrial-Musique Concrete-Collagen. "Old Dreams Waiting To Be Realized" ist ein zwanzigminütiges Stück, das Nurse With Wound nicht hätten besser machen können. Beziehungsweise wäre es fein, wenn Nurse so ein Stück überhaupt wieder einmal zusammenbrächten. Kommerzielle Erwägungen spielen bei "The Knife" definitv keine Rolle mehr. Hier ist eine Band am Werk, die macht, was sie will. Und das auf allerhöchstem Niveau. Es wird 2013 keine Platte mehr erscheinen, die auch nur annähernd an "Shaking The Habitual" heranreicht. Es folgen die beiden besten Nummern des Albums. "Raging Lung" ist eine langsame, intensive Nummer, die an Karin Dreijers Soloarbeit als "Fever Ray" erinnert. Bei "Stay Out Here"  fungiert Shannon Funchess von Light Asylum als Gastsängerin. "Fracking Fluid Injection" ist wieder Avantgarde pur. Stimm- und Instrumentalloops erzeugen eine gespenstische Stimmung, als ob Stimmen aus dem Jenseits versuchen, ins Diesseits zu dringen.

Gerade jetzt, am Zenit ihres Schaffens gingen "The Knife" nun auf zum ersten Mal auf Tour. Dass Wien, oder besser Krems, dabei nicht am Tourplan standen, kann man nur als extremes Versäumis des Donaufestivals bezeichnen. Die Band war genau zu jener Zeit ums Eck, als das Festival stattfand. Mit "The Knife" hätte man eine Band gehabt, die die ansonsten leeren Hallen gefüllt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Exkurs: The Knife live 2013

Der Konzertabend in München beginnt mit einiger Verspätung ganz furchtbar. Ein Hippie-Einpeitscher mit hundert Ketterln um den Hals und in Aerobic Outfit versucht die Menge aufzuheizen. Mit platten Sprüchen wie "The People will lead and the Leaders must follow" wird das Knife'sche Weltbild verbreitet. "Say hello to the stage" und "Grab your neighbour by the Arms" sollen die Stimmung im Saal steigern. Und das erschreckendste: es funktioniert. Die ganze Halle, 1000 Leute, machen begeistert mit. Nach 15 MInuten ist der Spuk vorbei, die Halle kocht, es stinkt nach Schweiss. "The Knife" betreten die Bühne in langen Kapuzenmänteln. Ein wenig erinnert die Stimmung an die raren Konzerte von Fever Ray; dort herrschte ebenso eine düstere gruselige Stimmung.

Nachdem der Einheizer die Leute zum Kochen gebracht hat, holen einen "The Kinfe" wieder herunter. Ein fünfzehnminütiges Instrumentalstück in düsterster Manier lässt die Tanzlaune zu Boden sinken. Mit "Raging Lung" beginnt Rhythmus den Saal zu erobern. Die Band besteht aus 7 Leuten - den Geschwistern Dreijer und 5 weiteren Musikern. Die Liveversion der Nummer ist phänomenal und lang, das Stück geht in die nächste Nummer über. Doch nach 2 oder 3 Minuten verlassen alle Musiker ihre Instrumente, die Musik läuft weiter wie bisher. Das gesamte Ensemble beginnt zu tanzen, und zwar in einer Art Choreografie, aber doch auch individuell. Das Publikum beginnt zu zweifeln. Was passiert hier? Nach einiger Zeit ist es klar: der Rest der Show besteht aus Tanz. Ganz kurz kehren die Musiker zu ihren selbstgebastelten Instrumenten zurück, nur um sie sofort wieder zu verlassen. Alle möglichen Musiker/innen, darunter auch einer der beiden Männer, singen die nächsten Songs. Jedoch alle mit der Stimme Karin Dreijers. Die Frage, was hier noch "live" ist, stellt sich nicht mehr. Alles kommt wohl aus der Konserve. Und das schräge daran: es macht einem überhaupt nichts aus.

Die unglaubliche Ernsthaftigkeit des CD Booklets, die besserwisserischen Platitüden aus den Interviews, all das zerfließt live in eine riesige große Party, deren schlicht umwerfendes Finale in einer laaaaangen Techno-Version von Silent Shout vor einer Lasershow mündet. Weg ist all die avantgardistische Ernsthaftigkeit, weg ist die Strenge und das Konzept, hier wird getanzt, und zwar bis zum Umfallen, denn selbst als "The Knife" die Bühne verlassen, geht "Silent Shout" nahtlos in ein DJ-Set über, das von einer der "Musikerinnen" vom Mischpult in der Mitte des Saales aus gestaltet wird. Was als Rezension möglicherweise nur komisch klingt, funktioniert live einfach ganz großartig. Radikaler kann man eine Show nicht gestalten. Alle Erwartungen des Konzertpublikums werden nicht nur nicht erfüllt, nein, man geht sogar so weit, und stellt sein Playback freudig zur Schau. Den beiden Dreihers ist die Freude ins Gesicht geschrieben. Dem Publikum auch. "The Knife" haben wieder einmal genau diesen unglaublichen Spagat zwischen Avantgarde und Party geschafft, der ihr Schaffen schon seit Anfang an auszeichnet.

Live setlist:

  1. A Cherry On Top
  2. Raging Lung
  3. Bird
  4. Without You My Life Would Be Boring
  5. A Tooth For An Eye
  6. One Hit
  7. Networking
  8. Wrap Your Arms Around Me
  9. Got 2 Let U
  10. Ready To Lose
  11. Full Of Fire
  12. Stay Out Here
  13. Silent Shout

Trackliste

  1. A Tooth For An Eye
  2. Full Of Fire
  3. A Cherry On Top
  4. Without You My Life Would Be Boring
  5. Wrap Your Arms Around Me
  6. Crake
  7. Old Dreams Waiting To Be Realized
  8. Raging Lung
  9. Networking
  10. Oryx
  11. Stay Out Here
  12. Fracking Fluid Injection
  13. Ready To Lose
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