Bereits zum neunten Mal fand Mitte November das größte osteuropäische Industrial-Festival in Breslau (Wroclaw)/Polen statt. Schon in der Vergangenheit sorgten Namen wie Merzbow, Nurse With Wound oder Tuxedomoon für Österreichische Pilgerfahrten in die ehemalige Kirche, genannt Gothic Hall. 2009 punktete man mit dem besten Line-Up bisher: Peter Christophersons Soisong spielten genauso auf wie Psychic TV, Gerechtigkeitsliga, Sutcliffe Jugend oder Brighter Death Now.
Heuer wurde dieses Programm noch einmal getoppt:
An insgesamt vier Abenden stand alles, was in Polen und dem Rest der (Industrial-)Welt Rang und Namen hat auf der Bühne der Gothic Hall. Mittwoch und Donnerstag wurde auf die beiden Hauptabende eingestimmt - am ersten Tag mit den Tschechischen Avantgardisten Birds Build Nests Underground, am Donnerstag mit der deutschen Film-Foto-Musik-Legende Fetisch Park. Carla Subito, mittlerweile einziges Bandmitglied, präsentierte einen bunten Abend in der Avantgarde-Galerie mitten im Zentrum Breslaus. Auf eine Diashow folgte das Konzert, danach wurde noch ein Film mit Live-Soundtrack präsentiert. Alles in allem ein wunderbarer Auftakt für das Festival; die Sounds bewegten sich irgendwo zwischen abstrakter Elektronik und Warp-mässigen Beats. Ein wenig lauter hätte es können sein, aber an sich war es ein äußerst angenehmer Abend.
Am Freitag eröffnete DJ Bambule mit brutal lauten Broken Beats den bunten Reigen. Erste Liveband war Theme, die Truppe um Richo Johnson, ehemaliges Mastermind von Splintered und Chef des sehr feinen Labels Lumberton Trading Company. Zu Beginn klang alles recht vielversprechend - Power Electronics, nicht zu hart, aber sehr gelungen, ein Gastauftritt von Gordon Sharp (Cindytalk) und eine nette Bühnenpräsenz ließen auf ein feines Konzert hoffen. Doch irgendwo nach circa zwanzig Minuten verlor sich die Band in einer langweiligen Nummer und fand nicht mehr zurück zur frühen Form. Der Rest des Gigs verlief unspannend, und man wandte sich eher den Merchandise-Ständen oder der Getränkebar zu.
Danach trat eine der bekanntesten holländischen Industrial-Bands auf die Bühne, Beequeen, die Formation um Frans de Waard und Freek Kinkelaar, erweitert um eine Sängerin unbekannten Namens. Diese sollte jedoch nicht die größte Überraschung des Sets sein, sondern der Sound der Band selbst wurde zum Aha-Erlebnis. Anstatt dem Publikum die erwarteten Drones um die Ohren zu hauen, präsentierten Beequeen 50 Minuten Sixties-Pop mit gewissen Lalala-Elementen, der aber nicht ohne Charme war. Ein wenig verlor sich die Darbietung in der großen Halle, man hätte wohl besser in die Galerie des Vorabends gepasst, aber Respekt vor einer Band, die genau auf so einem Riesenfestival etwas komplett Neues ausprobiert und die Zuhörer überrascht. Die Sängerin der Band sei übrigens Psychologin, hörte man später, und meinte wohl, sie würde viele potenzielle Klienten am Festival sehen, aber diese Anekdote sei nur am Rande erwähnt.
Die französische Wave-Truppe Clair Obscur bescherte im Anschluss das wohl schlechteste Konzert des ganzen Festivals. Sänger Christophe Demarthe klang zu Beginn, als würde er Klaus Nomi absichtlich persiflieren wollen, der Rest seiner Vokalperformance zeigte dann aber, dass nicht subtile Ironie hinter dem grausamen Gesang stand, sondern schlicht und einfach mangelndes Können. Musikalisch gab es Achtziger-New Wave der 2. Liga, eigentlich enttäuschend, man hätte sich von ihrem Auftritt eigentlich mehr erwartet.
Umso schöner war dann die Darbietung der wiederauferstandenen Cindytalk. Man konnte gespannt sein, wie sich ihr Sound live präsentieren würde, denn die beiden letzten CDs auf dem Wiener Label Mego sind ausschließlich Solo-Laptop-Performances.
Auf der Bühne fand man aber Sänger, Gitarrist, Schlagzeuger, Bassist und eine Keyboarderin. Obwohl Cindytalk keineswegs an alte Zeiten anschließen wollten, und auch zur Gänze neues, unveröffentlichtes Material spielten, erinnerte ihr Sound durchaus ein wenig an früher. Weniger songlastig ging es zu, bisweilen sehr krachig, hohe Frequenzen erinnerten stellenweilse eher an Noise-Künstler als an eine Rockband. Doch mit den Cindytalk auf CD hatte der Auftritt wenig zu tun. Zum Abschluss gab es noch eine komplett spontan eingestreute Krach-Techno-Nummer, die vom Publikum mit großem jubel quittiert wurde. Definitiv das Highlight des ersten Abends!
Mit Vollgas ging es dann auch gleich in die nächste Runde. Esplendor Geometrico peitschten einem 75 Minuten lang brutale Beats um die Ohren. Dabei trat Arturo Lanz nur selten ans Mikro, um seine repetetiven Texte in die Menge zu brüllen, auch die Lautstärke - an sich zwar durchaus gewaltig - war ein wenig gebremster als man es von den Spaniern gewohnt ist. Ohne Schlackern der Hosenbeine und ohne den Fokus auf einen Sänger waberten die Beats manchmal trotz allem ein wenig ziellos durch die Gegend, ein guter Auftritt, aber definitiv nicht der beste, den die Band je geboten hat. Dasselbe gilt auch für die britische Industrial-Legende Konstruktivists. Eine großartige Songauswahl aus den ersten drei Alben wurde durch den Auftritt von Sänger Glenn Wallis ein wenig gemindert. Mit nacktem Oberkörper taumelte dieser deutlich illuminiert auf der Bühne herum und schmiss die gewohnten Lyrics in die Ecke, um sie durch eine improvisierte Mischung aus Pubikumsbeschimpfung und Whitehouse-Parodie zu ersetzen. Amüsant war es allemal, ein wenig Rock'n'Roll auf der Bühne der Gothic Hall, aber das Konzert selbst hat dadurch nicht gewonnen. Den Abschluss bildete am ersten Tag dann die Gruppe Christblood. Sehr gothic, ein wenig lächerlich und musikalisch nicht weiter erwähnenswert.
Dirk Ivens, Industrial-Superstar und Mastermind hinter Bands wie Klinik, Dive oder Absolute Body Control, eröffnete als DJ den Samstagabend. Die erste Band war Job Karma, das Projekt von Festival-Organisator Maciek Frett. Angesiedelt zwischen EBM, Drum & Bass und Drone, lieferten Job Karma ein erstes Highlight des Abends ab. Großartige Filme auf der Leinwand mussten sich mit tollem Bühnenaufbau um die Aufmerksamkeit des Publikums streiten. Fünfzehn Laptops projizierten elektronische Augen in Richtung Halle. Ein Riesenaufbau an Instrumentarium ließ die beiden Bandmitglieder manchmal hinter Technik-Türmen verschwinden. Das Publikum war gebannt und bedankte sich mit gerechtfertigtem frenetischem Applaus.
Non Toxique Lost bestanden an diesem Abend aus Gerd Neumann und Achim Wollscheid. Nach anfänglichen massiven Soundproblemen fand die Band nach zehn Minuten in ein sehr gelungenes Set - eines der wenigen echten Industrial-Sets übrigens.
Die Japaner Contagious Orgasm mutierten seit ihrem Wien-Auftritt vor 13 Jahren zu einem Laptop-Duo. Das klingt zugegebenermaßen nicht sehr spannend, war es aber. Eine dermaßen gelungene Darbietung hört man in diesem Bereich selten. Ambient-Drones trafen auf melodische Passagen und trotz Ermangelung einer Show wurde einem keine Sekunde langweilig. Vielleicht die größte positive Überraschung des ganzen Festes. Die größte negative Überraschung war danach der Auftritt von Derniere Volonté. Auf CD ist man ja vom Military Pop zu ganz normalem Pop übergewechselt, dazwischen gab es auch ein ganz großartiges Seitenprojekt namens Position Parallele. Live jedoch fand man einen Rückfall in alte Neofolk-Zeiten vor. Der Großteil der Sounds kam vom Band, kein Keyboard wurde live gespielt, einzig und allein das "Schlagzeug" war live. Leider. Denn der Drummer hinkte das ganze Set hindurch dem Rest der Musik nach und verspielte sich zwischendurch auch noch anderwertig. Sänger Geoffroy D. gab sich als Klon von Depeche Mode-Sänger Dave Gahan anno "Black Celebration". Vom engen Lederhöschen bis hin zum Hüftschwung sah man eine eins-zu-eins-Kopie Gahans auf der Bühne. Schade. man hätte sich mehr erwartet.
Umso kontrastreicher fiel danach der Auftritt der römischen Ex-Neofolk-Nun-Popband Spiritual Front aus. Man kann ihren neuen Sound gut oder schlecht finden. Tatsächlich spielen die Italiener heutzutage Popmusik, ohne irgendwelche Verbindungen zum Industrial-Genre. Aber das machen sie dafür ausgezeichnet. Hier steht eine Band auf der Bühne, die spielen kann. Sänger Simone Salvatori hat das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute charmant in der Hand, so wie sich das für einen Frontman gehört. Das Set bestand vorwiegend aus Songs der letzten beiden Alben, die Fans sangen begeistert mit. Ein rundum gelungener Auftritt einer großen Band.
Als Abschluss gab es dann noch Kunst als Strafe und Con-Dom. Letztere boten den gewohnten Föhn-Drone mit ein wenig Gebrüll dazu. Power Electronics, denen ein wenig Power fehlte. Sonntag wurde dann wohl noch mit lokalen Bands der Ausklang des Festivals gefeiert, die Organisatoren können sich nun zufrieden zurücklehnen und das Line-Up für 2011 planen. Erste Namen klingen bereits jetzt vielversprechend.
Kommentare
danke für den Bericht!
zum glück sind geschmäcker verschieden, clair obscur fand ich, um das gesamte spektrum abzudecken, mittelmäßig ;-)
bei den konstruktivists bin ich ein wenig gespaltener meinung, einerseits hat glenn das set natürlich total zerstört, andererseits damit TG- und Whitehouse tribut gezollt... irgendwie... im nachhinein muss ich sagen, dass konstruktivists noch am radikalsten waren, wenn auch auf etwas peinliche weise.
der warm-up gig war insofern auf jeden fall gold wert :-)
non toxique lost fand ich auch sehr, sehr gut - der widerspruch zwischen optik (zwei ältliche herren) und akustik war interssant und verstörend zugleich.
job karma waren für mich das highlight, neben cindytalk und konstruktivists... wobei, das muss man auch sagen - der industrial-anteil an diesem festival war in etwa 40% - da wünsch ich mir persönlich nächstes jahr noch mehr.
großartig fand ich auch Dirk Ivens' DJ set, das leider viel zu früh angesetzt war, trotzdem lauschten so einige.
das programm klang recht spannend und so machten wir uns auch auf den weg nach breslau.
am donnerstag war für uns der einstieg mit Fetisch Park.
das konzert war ok, hat ganz gut in die galerie gepaßt.
freitag haben Theme den konzertreigen eröffnet. anfangs klang
das sehr vielversprechend, wurde aber dann leider
ziemlich fad.
Beequeen singen nun Jungscharlieder...
Clair Obscur waren dann zum glück ausgezeichnet,
das erste highlight auf dem festival.
Cindytalk im anschluß waren auch sehr gut, besonders
die letzte viertelstunde war super.
Esplendor Geometrico waren diesmal leider eher instrumental-
lastig was mit der zeit etwas fad wurde.
Konstruktivists.... glenn war einfach zu besoffen... leider
Christblood haben wir ausgelassen.
am samstag ging es mit Job Karma los, war das selbe set
wie in leipzig (wgt). schöne kombination von video und musik.
Non Toxique Lost haben mir nach bewältigung der technischen
schwierigkeiten ganz gut gefallen.
Contagious Orgasm gaben das beste konzert des festivals.
dafür gab Derniere Volonté im anschluß das mieseste.
Spiritual Front hat teilweise ganz gut gefallen. leider
war die akkustik der halle eine katastrophe, was sich
gerade bei der musik von SF sehr negativ auswirkte und
uns zum gehen bewegte....
nachzuhören und sehen gibt es ein paar sachen hier:
[www.youtube.com]