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Denkt man heutzutage über EBM nach, erfassen einen unter Umständen schwere Depressionen, denn viele Bands, die heutzutage unter diesem Banner agieren, sind entweder die ewiggleichen Kopien der ewiggleichen Vorbilder, oder schaffen es nur noch mit Provokation oder allzu strengem Look irgendwie, sich abzuheben - oder es ist verkappter Primitiv-Techno - dass sowas massiv in die Hose gehen kann, wird uns hoffentlich die aktuelle Nachtmahr-Kampagne vorführen, bei der einem wirklich schlecht werden kann.

Aber das nur nebenbei. Denn zum Glück gibt es doch gelegentlich positive Ausnahmen, und wenn man schon eher aus Verzweiflung zu Bands wie Autodafeh oder Jäger 90 greift, oder sich über Gebühr über das letzte Nitzer Ebb-Album gefreut hat, weil einfach nichts besseres nachkommt, dann sorgt so eine Überraschung wie Die Selektion fast schon für Euphorie.

So erging es mir, als ich mich mit dieser neuen, jungen Band beschäftigte, deren Sänger ich vor kurzem kennenlernte, und dessen ungebremste Energie wohl in seinem Wesen sehr eingeschränkt wäre, hätte er nicht das Ventil der Musik. Luca Morte/Gillian, so heißt er, hat in seiner noch anhaltenden Jugend ein Musikrepertoire intus, an dem sich andere gut und gerne Jahrzehnte abarbeiten.

Das überaus sympathische und sehr motivierte Deutsche Tape-Label aufnahme + wiedergabe brachte im April 2011 das Album "Noire" heraus, nachdem Die Selektion sich seit Jänner durch Deutschland spielten.

Ohne die direkten Einflüsse (Nitzer Ebb oder etwa DAF) zu ignorieren, gehen Die Selektion aber einen Schritt weiter, auch von der Instrumentierung her - neben analogen Sounds, einem harten Beat und Luca's in den Hall gellenden Vocals ist es die Trompete, die den Stücken eine ganz eigene Dynamik und Atmosphäre verleihen, wie etwa hier in "Du Rennst":

Träumen von einer besseren Welt
die Angst verschwindet in der Gegenwart
meine Hände zittern, deine Hände zittern
du atmest tief
renn so schnell du kannst, verlasse deine Träume
diese Träume bezwingen dich, zwingen dich auf den Boden [...]

Hier werden keine dadaistischen Minimaltexte gebracht, sondern Stimmungen skizziert, die den sonst mitunter sehr melodischen und durchwegs tanzbaren Lieder eine Tiefe verleihen, die man mit Freude aufnimmt.

"Steine Auf Dein Haupt", der zweite Titel auf dem Tape, geht einen ähnlichen Weg, diesmal dominiert die Trompete deutlicher, während "Deine Augen" wesentlich simpler gestrickt ist, dafür aber dann tempomäßig ordentlich zunimmt.

"Intermezzo" bremst dann runter auf Dark Ambient und macht das (wenn auch nur virtuelle, denn ein Download-Code erleichtert das Hören wesentlich) Umdrehen des Tapes spannend.

"Puppenspieler" ist dann wieder mit geschätzten 140bpm (jaha, gelernt ist gelernt!) unterwegs und das langgezogene Thema der Trompete leitet über in Luca's verwirrendste Lyrics auf dem Album. Unter anderem hier im Promo-Video:

"Raben" ist dann wieder so ein großartiges Stück, bei dem man sich durchaus angenehm an Death In June erinnert fühlt (The World That Summer-Ära), und man feststellen muss, dass die Trompete einfach genial zur harten Elektronik passt.

Wobei die angesprochene "Härte" nicht falsch zu verstehen ist - wir befinden uns mit Die Selektion im Oldschool-EBM, hier muss man sich nicht mit Mühe dazu zwingen, Techno/Harsh-Anleihen auszublenden, denn es gibt sie nicht.

Mit einem getragenen, emotionalen "Liliana", das noch eine ordentliche Portion Tragik in das Album bringt, geht das Tape zu Ende. Rauschend verabschiedet sich "Noire".

Fazit: Eine faszinierendes Tape einer aufregenden neuen Band, von der man ganz sicher noch mehr hören wird. Demnächst kommt ein Album in größerer Auflage heraus, von dem wir ebenfalls berichten werden. Wer EBM oder rhythmische Elektronik mit Tiefgang mag, wird sich sowieso sehr über Die Selektion freuen, alle anderen werden einfach mitgerissen.

 

Trackliste

  1. Du Rennst
  2. Steine Auf Dein Haupt
  3. Deine Augen
  4. Intermezzo
  5. Puppenspieler
  6. Raben
  7. Liliana
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