Im September 2009 erschienen, ist "Flying High!" Symbol und möglicherweise auch Manifest der Sinneswandlung, die Der Blutharsch in den letzten Jahren kolportierterweise durchgemacht hat. In Presseaussendungen und Release-Infotexten wurde das Album zumindest so angekündigt.
Von Psychedelic Rock ist die Rede, vom Brechen mit alten Klischees und Images liest man da - das vorliegende Album wäre eine künstlerische Antwort auf die immerwährenden Vorwürfe, die fast schon Wegbegleiter des musikalischen Werdegangs des Albin Julius waren.
Und tatsächlich ist Entwicklung hör- und spürbar - ist es vorbei mit Provokation und Kontroverse? Hat Der Blutharsch als Gesamtkonzept dann überhaupt noch Substanz, um Interesse zu wecken? Mit dem Wegfall des Fokus auf Image, Symbolik, Marschmusik, martialisches Auftreten und zweifelhafte Samples und Zitate rückt ja letztendlich immer mehr die Musik an sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Wer sich ein wenig ob der Trackliste wundert und sich bisher nicht mit Der Blutharsch beschäftigt hat - die Nichtbetitelung ihrer Songs ist eines der Markenzeichen der Band. Die Frage "Spielst du bitte 'Untitled' von Der Blutharsch?" ist also sehr lustig.
Für "Flying High!" besteht Der Blutharsch neben Albin Julius aus Jörg B., Bain Wolfkind und Marthynna - wobei, wie wir sehen werden, noch einige andere Musiker daran beteiligt waren.
Ein achtminütiges, in bewährter Mutterleibsakustik (die sich wie üblich auch durch den Rest des Albums zieht) gehaltenes Intro bildet den Auftakt - eine rohe Soundwand, mit wenigen Variationen, aber durchaus mitreissend. Repetitive und durchgehende Elemente bilden einen Klangteppich, von tremoloartigen Samples rhythmisch angetrieben. Gegen Ende setzen dann vereinzelte Vocals von Lou Chano ein - der erste von vielen Gastmusikern auf diesem Album.
Ein überraschendes Stück, das trotz der Überlänge nicht langweilig wird.
Danach gehts elektronisch weiter - von Psychedelic Rock bisher keine Spur, übrigens - ein sehr nettes, minimalistisch gehaltenes Stück voller warmer Synthiesounds und Beats, zum Kopfnicken einladend. Der wabernde Sound lullt angenehm ein, ich persönlich bin mir ziemlich sicher, dass da Subliminals eingebaut sind, deren verheerende Wirkung sich dann wahrscheinlich irgendwann, zu programmierter Zeit, einstellt (Bundespräsidentenwahl??). Die einsetzenden Vocals (im bei englischsprachigen Menschen so beliebten österreichischen Akzent) ab der Hälfte geben dem Stück eine gebetsmühlenartige Drift, ein sehr nettes Stück, das zum Immerwiederhören einlädt.
Marco Deplano (vom italienischen Projekt Wertham) leiht den erstmals dominant auftretenden Gitarren im dritten Stück dann einen vokalen Gegenpart, ein kurzes, zweieinhalbminütiges Intermezzo, das die Gangart ein wenig verlangsamt.
Gleich ist aber wieder Schluss mit Rock'n'Roll-Riffen, und wieder setzen wiederholende Elemente ein - ein hypnotischer Basslauf, mit zurückhaltendem Sprechgesang, von atmosphärischem Gitarrenspiel und wieder Synthiesounds begleitet, vermischen New Wave mit durchaus Psychedlischem. Leider versteht man ob des generell dumpfen Sounds herzlich wenig von den Vocals, falls sich da also zweifelhaftes einschleicht, muss man schon dem Equalizer bemühen, um es rauszuhören.
Dann wirds mysteriös - das offensichtliche Titelstück beginnt mit Twin Peaks-artigem Bass und sphärischen Orgelsounds, Hawkwind lassen grüßen - und Patrick Leagas (6 comm) besingt das Hochfliegen. Immer entlang des schmalen Grats zwischen Pathos und gesanglicher Fragwürdigkeit, bis das Tempo plötzlich zunimmt und treibende Drums dem Stück die Atmosphäre alter Death In June-Stücke verleiht. Es wird rockig, schnell und - hey, hier ist er: Der Psychedelic Rock! Oder? Hier wirkt die eingangs erwähnte Mutterleibsakustik allerdings ein wenig störend, denn gerne möchte man hier glasklar mithören.
Ein elfminütiges Stück, mit großartigem Spannungsbogen und der Mitwirkung eines alten Bekannten - eines der besten Stücke auf dem Album, wenn auch mit ärgerlichen, soundqualitativen Einschränkungen.
Mit Stück 6 dann mein persönliches Highlight des Albums - mit Vocals von Gianni Serusi ein wieder recht langes Stück (fast zehn Minuten), wieder sehr rhythmisch, fast schon poppig und mit zuckersüßen Bassläufen unterlegt.
Dann wirds aber wieder böser, Dennis Lamb's tiefe, beschwörende Stimme zu solierender Gitarre, wie sie schon bei Velvet Underground ein wenig nervig war, wenn auch nicht so im Vordergrund wie hier.
Stück 8 ist experimentell - zur singenden Säge ertönt - leider wieder unidentifizierbare - Sprache, möglicherweise Italienisch, sicher irgendwas massiv anstößiges. Eigentlich ganz packend, spannend und so auf ganz eigene Weise sehr gefällig.
Den Abschluß bildet ein nicht gerade eingängiges Stück, voller Bedrohlichkeit und Bosartigkeit, getragen von Stimme und Instrumentierung von Paola Andrea Riascos (Terroritmo), das in einem mehr oder weniger offenem Ende mündet.
Insgesamt ein sehr vielseitiges Album, das mitsamt der beiden letzten Alben eigentlich gleichzeitig ganz weit weg vom Restwerk der Band steht, aber trotzdem unverkennbar Blutharsch ist - und genau deshalb ist das kein Psychedelic Rock, nein nein, ganz und gar nicht. Es ist jedenfalls eine gute Richtung, die hier eingeschlagen wurde - und wenn Albin Julius noch die rechte Hälfte seines Studioequalizers (die mit den Höhen) erfolgreich erkundet, kann man auf das bald erscheinende nächste Album wirklich sehr gespannt sein...
Wir werden übrigens - hoffentlich demnächst - mit Albin Julius über die Wandlung seiner Band, dieses und das nächste Album, und vieles anderes plaudern!
Trackliste
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Kommentare
Seeeehr guter Tipp, die Höhenregler mal anzuwerfen. Finde es auch schade, dass hier viel Musik stattfindet, die dann aber im Dumpfbrei untergeht... Bei den frühen martialischen Sachen kein Problem, aber jetzt sieht das anders aus. Übrigens schreib ich diesen Kommentar im Bewusstsein, dass der Sound beabsichtigt ist. Stören tut er aber trotzdem ;-)
auch bei albins "the moon lay hidden beneath a cloud" wurden die stücke nur mit "untitled" tituliert. ist also nicht nur bei blutharsch ein "markenzeichen" gewesen. nur um es zu vervollständigen =;-)
ich bin passionierte Leserin deiner Reviews. die machen mich wirklich neugierig. und ein Interview? super :)