Am Dienstagmorgen in Leipzig tritt langsam Ernüchterung ein. Das Wave Gotik Treffen (WGT) wurde in der Nacht von Montag auf Dienstag beendet. Die Gothics, Grufties oder Schwarzromantiker, wie sie in diversen Lokalausgaben der Tageszeitungen genannt werden, treten ihren Heimweg an und überlassen Leipzig wieder den Leipzigern – zumindest bis zum nächsten Pfingstwochenende. Jeweils am Donnerstag davor, pünktlich zur Öffnung des Zeltplatzes, treffen die ersten Festivalgänger in ganz Leipzig ein. Die frühe Anreise wird einerseits mit einem gut gelegenen Zeltplatz belohnt und andererseits wird versucht das Festivalfeeling auf einen weiteren Tag auszudehnen. Diesem Versuch kommen die Parties am Donnerstag, in den verschiedenen Locations, wie Villa, Moritzbastei und Darkflower, entgegen. Abgesehen davon, dass auch am Donnerstagabend ganz Leipzig bereits dunkle Gestalten zu bieten hat, kann sich so der gemeine Grufti nicht einsam fühlen.
Im Gegensatz zu 2006, wo schon am Donnerstag anlässlich des 15. Geburtstages des WGTs das WGT mit Konzerten im Rahmen des WGT-Jubiläumsballs im Volkspalast eröffnet wurde, begannen 2008 die Konzerte am Freitag, den 9. Mai. Dies war auch an den Bändchen-Abholplätzen zu bemerken, während 2006 die Schlangen schier endlos schienen, bedürfte es dieses Jahr keinen Anstellbemühungen. Im Allgemeinen entstand der Eindruck, dass das WGT weniger gut besucht sei. Der Zeltplatz war nicht so überfüllt, die Schlangen an den verschiedenen Locations hielten sich in erträglichen Grenzen, auch die Taxifahrer vernahmen eine geringere Nachfrage. Die subjektiven Eindrücke lassen sich aber nicht durch objektive Zahlen bestätigen, denn letztere fehlen. Die Zeitungen verlautbarten am Dienstag, wohl gemerkt wie jedes Jahr, eine Besucherzahl von 20.000.
Ganz ohne Anstellerei ging es nun doch nicht, denn pünktlich zum ersten größeren Act „Das Ich“ in der Agra-Halle bildete sich eine Traube, die um Einlass drängte. Je nach Ausgangs- oder Angriffspunkt kam man so entweder nach fünf oder fünfundzwanzig Minuten in die dunkle, große Halle. Die wider Erwarten nach dem Anstellen kaum gefüllt war und genügend Platz zum Atmen bot. Dank mangelnden Geschicks beim Anstellen konnte von „Das Ich“ nur Bruno Kramms teufelsähnliche, in Rot gehaltene Antlitz bei dessen Verabschiedung vernommen werden. Die nachfolgende Band „Sigue Sigue Sputnik“ veranlasste einen Wandel im Publikum, welches dann den "original Kings of electronic Rock n Roll“ besser entsprach.
Ein Hauch von Underground?
Schon vor dem WGT war zu vernehmen, dass die Electro-Formation Steinkind trotz Streichung aus dem offiziellen WGT-Programm ein Gratis-Konzert geben würde. Obwohl oder gerade weil es keine Erklärung für die Streichung gab, wehte um Steinkind plötzlich ein Hauch von David gegen Goliath. Die Solidarisierung mit dem schwächeren David ließ einige Fans die Irrfahrt zum Club Lagerhof aufnehmen, welcher trotz des abgelegenen Ortes einen manierlichen Eindruck hinterließ. Dass entgegen der Ankündigung um 22:00 Uhr keine Band in Sicht war, wurde durch die Tatsache, dass sich relativ viele Wiener in den Club verirrt haben, ausgeglichen. Die Ablenkung durch die bekannten Gesichter ließ auch die Vorband überstehen, die um 23:00 Uhr die kleine Bühne betrat. Die Romantik des Unplanmäßigen wurde noch ausgeweitet dadurch, dass auch um 00:15 Uhr erst die zweite scheinbar namenlose Vorband ihr Unwesen zu treiben begann. Allerdings in einer größeren Lautstärke als die erste. Die unglaubliche Lautstärke in Kombination mit der nicht ganz passenden Einstellung der Tonanlage, ließ nun nicht nur mehr die Raucher ins Freie stürmen. Der Unmut über die „unverschämte Abzocke“ und der Übelkeit verursachende Lärm ließ die Besucherzahlen schwinden. So bleibt es nun dahin gestellt, ob Steinkind nun in dieser Nacht noch zu sehen war. Zumindest die Wiener Besucher waren sich einig, dem vermeintlichen Underground abzuschwören und in Zukunft nur noch offizielle Veranstaltungen zu besuchen.
Um die schlechte Erfahrung abzuschütteln, wurde eine ruhige Nachtgestaltung gesucht und in der Kathakombe der Villa gefunden, wo laut Beschreibung Neofolk, Ritual, Ambient, Apocalyptic-Folk und Martial-Industrial warteten. In diesem Fall trafen die Erwartungen ein. Die Stimmung war ernst, aber feierlich. Der Nebel reichlich, wenn auch der Kirschenduft der Nebelmaschine nicht unbedingt mit der Musik vereinbar war.
Der Wettergott meinte es 2008 sehr gut mit den Festivalbesuchern und bescherte ihnen stets freundliches und beständiges Wetter. Die Zelthelden erfreuten sich dieses Umstandes mehr als die Junggrufti-Lolitas in Korsett und weiter Robe. Auf der Flaniermeile am Agra-Gelände schien auch heuer wieder der Modegeschmack bzw. der Exhibitionismusgrad das Outfit zu bestimmen und das Wetter nur peripheren Einfluss auszuüben. Den Hitzerekord wurde aber nicht in der Mittagssonne gemessen, sondern am Samstagabend in der Agra-Halle, wo sich die Anhänger von Hocico und Covenant versammelten.
In der Halle war aufgrund der Menschenmassen kaum mehr Luft vorhanden. Es war stickig heiß als mexikanische Ureinwohner mit übermächtigem Federschmuck die Bühne mit einer duftenden Räuchermischung versahen. Zu „the shape of things to come“ betraten Hocico die Bühne und brachten trotz der Hitze die Masse dazu ihren Aufrufen zu folgen und verwandelten damit die Halle in einen Tanzpalast. Das energiegeladene Duo brachte die Halle fast zum überkochen. Nach 50 Minuten waren nicht nur die Sänger auf der Bühne Schweiß gebadet, sondern dank der Luftfeuchtigkeit auch die wenigen, die sich den tanzenden Beats widersetzen konnten. Die einzige Erleichterung brachte das Leipziger Antirauchergesetz, das zumindest die Glimmstängel aus der Halle hielt. Da sich die Gruftis aber nicht unbedingt um die Verhinderung eines vorzeitigen Todes durch Lungenkrebs kümmern, versprachen die Veranstalter schon im Vorfeld im Gegenzug die Freiluftbereiche der Agra-Halle zu vergrößern um den Rauchern mehr Platz zu bieten. Angesichts der drückenden Hitze fanden nicht nur die Raucher Abkühlung in dem mit zwei Bars ausgestatten Auslauf. Da es aber manchen verwehrt bleibt um die Ecke zu denken, versammelten sich die meisten kurz nach den Ausgängen, wodurch auch im Freien das Ölsardinen-Gefühl nicht abnahm.
Covenant erschien mit einiger Verspätung und nach einem langwierigen Intro mit „20 Hz“ auf der Bühne, die mit großen LED-Quadraten dem Sound von Convenant angepasst wurde. Zunächst wollte keine Stimmung aufkommen. Vor allem im Vergleich zu den Energiebündeln von Hocico, erschien das schwedische Trio eher ermüdet und orientierungslos. Die Darbietung eines Songs aus dem bisher unveröffentlichten Album, wurde vom Publikum ruhig aufgenommen und eher mit einem Achtungsapplaus als mit Begeisterung goutiert. Mit dem Verlauf des Auftrittes schien sich auch Covenant nicht nur physisch auf der Bühne einzufinden und die Stimmung wurde beachtlich besser, was allerdings auch an den gespielten Liedern wie „we stand allone“ oder „call the ship to port“ gelegen haben mag. Letzteres schaffte es trotz tödlicher Hitze eine Gänsehaut zu zaubern. Im Großen und Ganzen brachten Covenant definitiv schon bessere Leistungen hervor, aber manche Größen dürfen es sich unter Umständen auch erlauben eine entspannte Arbeitshaltung anzunehmen.
Am Sonntag wird man sich bewusst, dass die Hälfte des „Weihnachtfestes für Gruftis“ bereits vorüber ist und die verbleibende Zeit optimal genützt sein will. Den Sonnenstrahlen zum Trotz findet man sich also schon um 15:00 Uhr in der Parkbühne ein um den Klängen von Schallfaktor zu lauschen. Dank der lahmen Performance des - ansonsten mit seinem südländischen Temperament werbenden - Drazen Sucic kann ein schattiges Plätzchen aufgesucht werden. Dessen Verlassen auch durch die zu dem Vorgänger leicht verbesserte Bühnenpräsenz des Berliner Trios Din (A) Tod nicht unbedingt erstrebenswert erschien. In beiden Fällen bleibt die Musik aufgrund der mangelnden Innovation unkommentiert.
Im Werk II haben sich schon die Jünger für den Elektro- und Krachabend eingefunden. Den Beginn bestreitet Greyhound. Der Sound des Ein-Mann-Projektes passt sehr gut in die Halle des Werk II und bereitet das Publikum auf die nachfolgenden Bands vor. Für die relative frühe Zeit von 17:00 Uhr steht nur bei wenigen das Tanzbein still. Noisuf-X vermögen es nicht den Schwung mitzunehmen, was aber hauptsächlich daran liegt, dass sich in der Pause ein Publikumswechsel hin zu bunteren Gestalten vollzogen hat. Nach einer kurzen Stärkung durch erwähnenswerte Folienkartoffeln mit Kräuterquark im Hof des Werk II ist es angesagt, sich in den Kohlrabizirkus zu begeben um rechtzeitig ohne Anstellanstrengungen Welle:Erdball genießen zu können.
Die durchdachte Planung lässt uns den Auftritt von One/Two erleben. Neben Claudia Brücken und Paul Humphreys, die beide aus Formationen der 1980er Jahren „Propaganda“ bzw. “Orchestral Manoeuvres in the Dark” bekannt sind, betreten noch zwei weitere Musiker, die das Duo mit Keyboards und Gitarre unterstützen, die Bühne. Neben Liedern aus ihrem Album „Instead“ präsentierten sie auch Songs ihrer alten Bands, wodurch sich auch erklärt, warum der Altersdurchschnitt des Publikums in die Höhe schnellte. Die langjährige Bühnenerfahrung ließ sich bemerken als das Keyboard resetet werden wollte und Claudia Brücken nach dem Ausrufer „Oh wie peinlich!“ kurzer Hand eine A-Capella Version von „Cloud 9“ sang. Nach insgesamt zehn Liedern verabschiedeten sich One/Two und überließen die Bühne nun Welle:Erdball, die selber bei der umfangreichen Umgestaltung des Bühnenbildes mithalfen.
Mittlerweile hatte sich auch der Kohlrabizirkus gefüllt. Im Vergleich zur Parkbühne 2005 war aber noch genügend Freiraum vorhanden. Das opulente Bühnenbild für einen geplanten Auftritt von 40 Minuten zeigt, dass sich Welle:Erdball Mühe mit ihren Live-Performances geben und dabei ihrer Kreativität freien Lauf lassen. So auch dieses Mal. Denn als sich das Publikum schon ihrer Ikonen auf der Bühne sicher wähnte, zeigte sich, dass die den Bandmitgliedern nach empfundenen Puppen, die sich zu den Klängen des Kraftwerk-Covers „Robots“ wie Roboter bewegten, die wahren Bandmitglieder, Honey, A.L.F., Frl. Venus und Plastique, waren. Nach diesem Verwirrspiel erfolgte ein schwungvolles Konzert mit den altbekannten Liedern, wie „Starfighter F-104G“, „Commodore C=64“ oder „Hoch die Fahnen“. Die Luftballone und Papierflieger kommen in der hohen Halle bei dem Publikum sehr gut an, sodass nach rasch vergehenden 40 Minuten die Enttäuschung über das jähe Ende groß ist. Honey verwies mit den Worten: „Wenn Sie Kommen wollen, dann kommen Sie früh, denn das wird nämlich Krieg“ auf das Akustik-Konzert von Welle:Erdball am Montag in der Moritzbastei. Mit einem gitarrenlastigen Cover von Madonnas „Frozen“ verabschiedeten sich Welle:Erdball von der Bühne.
Die anschließende Rückkehr in das Werk II lässt uns miterleben, wie Kai von Straftanz die Menge durchschreitet und das Publikum im Vergleich zu seiner Größe winzig erscheinen lässt. Die nebenberuflichen Jungmusiker schaffen es mit ihrer Bühnenshow, die keinen Publikumskontakt scheut, zu begeistern und täuschen so über mangelnde musikalische Innovation hinweg.
Da die Nacht noch jung ist, geht es nach kurzem Stopp im Hotel zum Zwecke des Umkleidens, in den Volkspalast, wo die Obsession Bizarr mit einem strengen Dresscode wartet. Die der antiken Bauweise nachempfundenen Säulen beim Eingang und die Amphiarena im Inneren verleihen der Location einen edlen Touch, der durch die in Rot und Gold gehaltener Innenausstattung unterstützt wird. Die Räume im Keller, sowie die Toiletten entsprechen wiederum mehr der Bauweise der DDR. Seit Jahren wird am WGT-Sonntag das ambivalente Flair des Volkspalastes zur Zurschaustellung von Fetisch- & SM-Praktiken herangezogen. Die Musik ergibt einen tanzbaren Mix und die gelungenen Übergänge zwischen den verschiedenen Richtungen überraschen positiv.
Einen Großteil der besonderen Atmosphäre des WGTs machen die verschiedenen Locations, die fast auf ganz Leipzig verteilt sind, aus. So zählen seit Jahren sowohl Kirchen, wie ein Kino, das Völkerschlachtdenkmal oder das Schauspielhaus zu den Veranstaltungsorten. Diese Jahr wurde die Leipziger Oper eingeschlossen, wo am Montag eine Aufführung von Verdis La Traviata besucht werden konnte. Angesichts dessen, dass Wien über eine hervorragende Staatsoper verfügt, die einem Einlass ab 3 EUR für einen Stehplatz gewährt, ist ein Opernbesuch während des WGTs für Wiener mit zu hohen Opportunitätskosten verbunden.
Stattdessen lockte nachmittags der Film „Operation:Zeitsturm“ der Welle:Erdball Crew ins Kino. Der Film wurde von Honey persönlich als B-Movie angekündigt und zeigte wie mittels der Reaktivierung einer Zeitmaschine aus dem zweiten Weltkrieg durch den Commodore 64 Plastique zur Band gefunden hat. Der Film bestach durch seinen Witz und ließ somit schauspielerisches Können bzw. Nicht-Können in den Hintergrund rücken. Das Festival neigte sich seinem Ende zu, dies war auch daran zu merken, dass die Müdigkeit leicht überhand nahm. So kamen die Sitzplätze im Schauspielhaus sehr gelegen. Die italiensche Gruppe Dismal, deren Musik als „gotisch, düsterer, progressiver Rock mit theatralischen Elementen“ beschrieben wurde, stellte sich eher als ruhiger Traumbegleiter dar. Um wieder aufzuwachen wurde der Horrorpunk im Werk II gewählt. Die Jungs aus dem sonnigen Kalifornien von Rezurex überzeugten mit der Stimme von Daniel deLeon bei Liedern wie “Psycho Radio” und “Devil woman from outer space“ und rockiger Stimmung, die auf das Publikum nicht erst überspringen musste. Zum Ausklang entspannte die psychedelische Performance von „Psychic TV“ in der Kuppelhalle des Volkspalastes. Nach der Ruhe vor dem Sturm ging es in die Moritzbastei um das offene Ende in den Morgenstunden dann doch einzuläuten.
Obwohl der Dienstagmorgen genauso sonnig wie der der vorangegangenen Tage ist, steht grufti wehmütig auf um die Heimreise anzutreten. An den Autobahnraststätten rund um Leipzig kommt dank überraschender Ansammlung von dunklen Gestalten das Festivalfeeling noch einmal auf um dann mit der Frage „Und Drogen?“ von einem Zollbeamten der Deutschen Polizei in Bayern beendet zu werden.
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