Robert Forst schreibt in seinem spontis-Blog regelmäßig großartige Essays über die Schwarze Szene. Für gothic.at hat er sich mit dem Wechsel der Generationen im Deutschland der 90er Jahre auseinandergesetzt - eine für Österreich nicht unwichtige Entwicklung, immerhin definierte sich die "dritte Welle" der hiesigen Szene musikalisch zum Großteil über Bands, die diesem Generationswechsel entsprungen sind, was nicht zuletzt zur bis heute bestehenden Grüppchenbildung geführt hat... das wird wohl noch Thema eines Folgeartikels sein.

Wechsel der Generationen in den 90ern - Gothic zwischen Tod und Wiederauferstehung

Ende der 80er Jahre liegt die westdeutsche Gothic-Szene am Boden. Die Idole von damals haben ihre Anziehungskraft verloren, die Szene verliert an Integrität und Zusammenhalt. Man rudert hilflos im Meer neuer Musikrichtungen, ohne in ein gemeinsames Boot steigen zu können. Nachdem die BRAVO das Wort Gothic 1986/87 zu einer modischen Attitüde erniedrigt hat und damit eine breite Masse erreicht, ändert sich nun der Trend. Leute, die es einmal cool fanden, schwarz gekleidet zu sein, finden es nun cool, mit Warnwesten und weißen Handschuhen hinter knallbunten, fahrenden LKW zu tanzen.

Die Bands, die einst den Underground schufen, sind nun erfolgreich. Mit "Disintegration" erreichen The Cure 1989 ihren vorläufigen Höhepunkt und sind dabei schon stilistisch im Pop angekommen. Die Sisters of Mercy veröffentlichen mit "Vision Thing" 1990 ein Hard Rock Album und die Fields of the Nephilim lösen sich 1991 in Wohlgefallen auf. Wer etwas auf sich hält, wechselt in die aufstrebende Techno-Szene, ist nun "Erwachsen" oder beginnt damit, sich für Musikstile zu interessieren, die die Idee des Gothic aufgreifen und fortführen.

Aus den einstigen Anhängern einer musikalisch geprägten Bewegung, die der Szene treu geblieben sind, sind junge Erwachsene geworden. Und mit Ihnen sind auch Ideale gereift, die aus der Musikrichtung einen Lebensstil machen. "Recht schnell entwickelte sich "Gothic" vom Lebensgefühl zu einem Lebensstil, der sich mit den vorformulierten Thematiken weitaus intensiver und ernsthafter befasste, als dies selbst von den frühen Protagonisten beabsichtigt war." [1]

Gefallen und wieder Auferstanden

Dark Wave, Neofolk, EBM und Industrial, die schon Mitte der 80er von der noch recht homogenen Szene vereinnahmt wurden, beginnen nun, die Szene durch immer größer werdende Splittergruppen zu spalten. Doch bevor die Szene zu zerbrechen droht, zerbricht die deutsch-deutsche Grenze. Der Mauerfall wirkt 1990 wie eine Adrenalin-Spritze in das Herz der Gothic-Szene. Während es im Westen nichts Neues gibt, entwickelt sich in der ehemaligen DDR eine starke schwarze Szene aus einer eingeschworene Gemeinschaft von Grufties, die bis dahin nicht nur wegen ihres Aussehens sondern auch wegen des sozialistischen Staats gezwungen waren, gemeinsam zu agieren und Opposition zu ergreifen.

Berlin, das schon vor dem Mauerfall ein Schmelztiegel für alle musikalisch geprägten Szenen war, scheint zu explodieren. Diskotheken wie das Linientreu sind angesagt und genießen internationale Bekanntheit. "Nicht dieser Discofox-Kram, sondern Underground, Subkultur, ein Lebensgefühl. Das Linientreu war im West-Berlin der achtziger Jahre das Mekka für Leute wie Micha. Damals, als der Kudamm noch der Ort war, wo alles passierte. "Wenn du nicht auf dem Kudamm warst, hast du was verpasst", erinnert sich Geschäftsführer Karsten und weiß, wie schwer das heute nachzuvollziehen ist."[2] Vor allem im Ostteil der Stadt öffnen und schließen neue Clubs und Treffpunkte alternativer Lebenskultur im Wochenrhythmus und sorgen als vermeintliche Hochburg schwarzer Lebenskultur für stetiges Wachstum.

Die nach Perspektiven suchende Jugend beginnt sich selbst zu entdecken. Tot gehoffte Szenen wie die Neonazis verzeichnen ebenfalls regen Zulauf, alles was anders war als der nationalistische Grundgedanke wurde bekämpft. So verwandeln die braunen Horden Berlin in einen Hexenkessel, die Aggression richtet sich gegen Punks und Grufties und machen Berlin 1990/91 zu einem heißen Pflaster für alternative Subkulturen. Und obwohl das Wachstum gehemmt erscheint, ist das Nachholbedürfnis größer. Eine neue schwarze Generation wächst heran und sorgt in den folgenden Jahren für einen stetigen Zuwachs der Gothic-Szene.

Neue Generation, neue Probleme

Vor allem in Deutschland wird aus der ursprünglich musikalisch geprägten Bewegung ein Lebensstil. Immer mehr Musikrichtungen finden in der Szene Anklang. Es herrscht Aufbruchsstimmung, die auch viele Professionelle in die Szene bringt, "...die auf mehr oder minder hohem Level Plattenfirmen und Verlage gründeten. Plötzlich wurden etlichen Bands Plattenverträge angeboten [...] Viele hatten bemerkt, dass mit dem Underground Geld verdienen kann." [3]

Aufstrebende Szene-Magazine - wie beispielsweise das Zillo - wirken spätestens 1991/1992 mit einer Auflage von rund 70.000 [4] wie ein Multiplikator. "Ein Ruck ging durch die Szene, als Anfang der 90er Jahre das erste Zillo am Bahnhofskiosk auslag. Ursprünglich war das mehr oder weniger das Programmheft des gleichnamigen Hamburger Clubs im DIN A5-Format. Nach dem Erscheinen an den Kiosken hatte die Szene Plötzlich ein Sprachrohr." [5]

Das 1992 erstmals veranstaltete Wave-Gotik-Treffen in Leipzig wird zu dem wichtigsten Treffen der "neuen Generation" und lockt auch die mittlerweile "alten" Grufties der ersten Stunde an, die früh erkannt haben, dass der Tellerrand der schwarzen Musik nicht mit Gothic-Rock oder Wave aufhört.

das ichDas musikalische Vakuum, das die ursprünglichen Bands durch ihre Auflösungen oder Stiländerungen hinterlassen haben und die immer größer werdende Nachfrage nutzen neue Bands für sich. In Süddeutschland beginnen Musiker damit, Gothic Rock, Wave und Klassik zu mischen und mit poetischen Texten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das Ich veröffentlicht 1990 ihren Titel "Gottes Tod", das den Grundstein für eine neue Musikrichtung legt, die Sven Freuen vom Zillo als "Neue deutsche Todeskunst" kategorisiert. [6] Rund um das Danse-Macabre-Label formen sich Gruppen wie Relatives Menschsein, Lacrimosa und Goethes Erben und verhelfen der neuen Musikrichtung auch durch aufwendige Bühnenauftritte zu europäischer Beachtung.

Die neuen Musikrichtungen und Bands, die eine neue Generation von Gothics ansprechen, spalten die Szene. Die Anzahl der Anhänger wächst rasant schnell. Durch Szene-Magazine und Sampler - gepaart mit neuen Musikrichtungen und Ideen - erreicht man die kritische Masse. Auch die Kommerzialisierung scheint nun zu greifen. Um einen potenten neuen Markt zu bedienen, eröffnen Versender und Mailorder-Läden ihre Pforten. Ausgehend vom Zillo, sorgen neue Magazine wie der Sonic Seducer oder das Gothic (gegründet als Magazin für Psychedelic) für sprunghaft ansteigende  Nachfrage.

Es scheint unausweichlich, dass sich die, die ihre Szene in das neue Jahrzehnt retten wollen, von denen, die nun auf den Zug aufspringen, distanzieren. Das Gefühl des Randgruppendaseins, der Gemeinschaft des kollektiven aber überschaubaren Andersseins zerbröckelt im Sandsturm der medialen Aufmerksamkeit. Junge Erwachsene, die ihre musikalische Leidenschaft und ihren Kleidungsstil zum Lebensgefühl entwickelten, scheinen mit der neuen Generation nichts mehr anfangen zu können. Die zweite Generation, die in den 90ern das Licht der Welt erblickte, ist Tribut an die demografische Entwicklung einer Jugendszene. Spaltung ist unausweichlich und erwünscht. Übertriebene Szenetoleranz sorgt immer wieder für neue Konflikte, denn was nicht zusammenpasst, sollte auch nicht passend gemacht werden.

Selbst in der 10ern wird das nicht anders sein. Wenn wir diesen Umstand akzeptieren und den Mut haben, den eigenen Teller für eine Exkursion zu verlassen, können wir uns gemeinsam auf die Wurzeln des Baums besinnen, dessen Früchte wir nun sind. Was zu viel ist, fällt bald herunter, treibt neue Wurzeln und gedeiht - oder es bleibt am Boden liegen und verfault.

"Weil irgendwie zwar schon dies Düstere, Mystische, Einsame, Melancholische irgendwie wichtig ist, nicht aber im Sinne von Selbstmitleid, was in den 90ern in der Szene sehr verbreitet ist, sondern im Sinne von: Damit-Umgehen, das als Abgrenzung an die Gesellschaft sehen. [...] Dass man nicht zum Jasager und Konsumenten mutieren sollte. Dass man Denkstrukturen über den Haufen wirft. Dass man einfach ganz neu anfängt, sich mit den Sachen zu beschäftigen, als es einem so von den Eltern, Schule und sonst woher vorgekaut wird. Und das wirkt nach außen hin immer aggressiv." [7]

R. Forst - spontis.de

[1] Ecki Stieg: Eine Szene ohne Namen, erschienen im Buch Gothic! von Peter Matzke und Tobias Seeliger, S. 17]
[2] Aus dem Artikel: Genieß die Stille, Anne Lena Mösken für die Berliner Zeitung vom 27. März 2008
[3] Peter Matzke und Tobias Seeliger: Gothic 1, 2000 Schwarzkopf & Schwarzkopf, S.222
[4] Quelle: Artikel bei Wikipedia zur Zillo, abgerufen am 27. November 2010]
[5] Peter Matzke und Tobias Seeliger: Gothic 1, 2000 Schwarzkopf & Schwarzkopf, S.218
[6] Vergleiche Artikel von Sven Freuen in: Zillo Magazin Heft Nr. 12/91 Seite 6, erschienen im Dezember 1991
[7] Susanne El-Nawab: Skinhead, Gothics, Rockabillies - Archiv der Jugendkulturen e.V., 2007, S. 179]